EGL076 Abide with Me: Entstehung, Bedeutung und Vermächtnis von H. F. Lytes bekanntester Hymne
In dieser Episode befassen wir uns mit dem schottisch-irischen anglikanischen Geistlichen, Dichter und Hymnenschreiber Henry Francis Lyte (1793–1847). Micz hat dieses Thema gewählt, weil er für die Beerdigung einer Kollegin und guten Freundin mit anderen „Abide with Me“ singt und einstudiert. (Ab ca. Minute 39 singt Micz die erste Strophe von „Abide with Me“ und interpretiert Text und Melodie.) Wir arbeiten uns anfangs durch viele Daten, Fakten und Zitate zum Leben, Glauben und Schaffen von Lyte. Dass Micz mit dieser Fülle an Fakten seine Emotionen der Trauer und Melancholie verdrängt, entdeckt Flo – der alte Psychotherapeut – bevor Micz draufkommt (ca. Minute 34, den Abwehrmechanismus könnten wir als Intellektualisierung oder Sublimierung benennen). Henry Francis Lyte wurde besonders bekannt durch seine Hymne „Abide with Me“, die er kurz vor seinem Tod 1847 verfasste. Lytes Kindheit war von familiären Umbrüchen und frühen Trennungen überschattet. Nach der Trennung seiner Eltern verließen diese ihn, und er lebte ab dem neunten Lebensjahr als Waise. Bereits in jungen Jahren begann Lyte, Gedichte zu schreiben, und zeigte außergewöhnliche sprachliche und geistige Begabung. Nach seinem Theologiestudium in Dublin und Cambridge trat Lyte in den kirchlichen Dienst ein und wirkte in mehreren Gemeinden, zuletzt über zwei Jahrzehnte lang in Brixham, Devon. Ein prägendes spirituelles Erlebnis am Sterbebett eines Mitbruders führte zu einer Vertiefung seines Glaubens und prägte seine spätere Theologie. Gesundheitlich war Lyte seit jungen Jahren angeschlagen. Seine Tuberkulose zwang ihn immer wieder zu Aufenthalten in wärmerem Klima – unter anderem in Südfrankreich und Italien. Er starb 1847 in Nizza, zuvor hatte er die letzte Version und Anmerkungen zu „Abide with Me“ nach England geschickt. Die Hymne vereint Lytes persönliche Glaubensgewissheit mit dem Wunsch göttlicher Nähe im Angesicht des Todes. Die Hymne wurde überkonfessionell bekannt, bei königlichen und staatlichen Trauerfeiern sowie Sportveranstaltungen gesungen und gehört bis heute zu den meistgeschätzten Kirchenliedern im englischsprachigen Raum. Schließlich finden wir noch zwei popkulturelle Referenzen, die von Lyte inspiriert scheinen: „Help“ von den Beatles und „Hey Hey, My My (Into the Black)“ von Neil Young.
Shownotes
- Links zur Laufstrecke
- EGL076 | Wanderung | Komoot
- Lausitzer Platz Emmaus-Ölberg-Gemeinde Kirche
- Lausitzer Platz Emmaus-Ölberg-Gemeinde Kirche: Herr bleibe bei uns denn es will abend werden
- Drohnenflug Video um die und in der Kirche (Warnung: > 300MB)
- Video 5 Min. über die Gemeinde auf WELT von 2019
- Henry Francis Lyte, 1793-1847
- The poetical works of the Rev. H. F. Lyte von John Appleyard 1907
- "Henry Francis Lyte (1793-1847) - his life and times" by Evelyne Miller
- Henry Francis Lyte im Dictionary of Ulster Biography
- Oxford Dictionary of National Biography, 2004
- "Abide with Me" Informationen
- "Abide with me" auf Poets' Corner
- Illustriertes Buch mit Text "Abide with me" 1878
- Remains of the late Rev. Henry Francis Lyte, M.A., incumbent of Lower Brixham, Devon ; with a prefatory memoir von 1850
- "Hymn Story: Abide With Me" By Clayton Kraby
- Bibeltexte / Lukas 24
- Lukas 24 in der Lutherbibel 1912
- Übersetzungen Lukas 24,29 (Bleibe bei uns)
- "Better to burn out than to fade away" Zitat
- Kurt Cobain’s Suicide Note
- "Hey Hey, My My (Into the Black)" Neil Young mit Zitat
- Highlander Kurgan Church Scene - I Have Something To Say
- Andere Melodien der Hymne
- Dame Clara Butt - Abide with me (S. Liddle) 1922 or 1924
- "Morecambe", Frederick C. Atkinson, 1870
-
"Penitentia", Edward Dearle, 1874
- Noten: "Penitentia", Edward Dearle, 1874
-
"Woodlands", Walter Greatorex, 1916
- Misc
- Drowning by Numbers
- Zauberberg Hörspiel
- Noten für Abide with Me (Sopran und Alt) in Eb-Dur als PDF
- Noten für Abide with Me (Tenor und Bass) in Eb-Dur als PDF
- Rev Henry Francis Lyte (1793-1847) - Find a Grave Memorial
Transcript
Wir beginnen unsere Tour am Lausitzer Platz, direkt vor der Kirche der Emmaus-Ölberg-Gemeinde. Über dem Eingang entdecken wir die Inschrift: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden.“ Sie lehnt sich an eine Stelle aus dem Lukasevangelium an – Kapitel 24, Vers 29 –, in der zwei Jünger den auferstandenen Jesus bitten, bei ihnen zu bleiben, weil der Tag sich dem Ende neigt. In der englischen King James Version lautet der Satz: „Abide with us: for it is toward evening, and the day is far spent.“ Diese Worte sind nicht nur Teil einer biblischen Erzählung, sondern auch die direkte Inspiration für das bekannte Kirchenlied „Abide with Me“, das wir in dieser Episode besprechen.

Der original Notensatz der Melodie von Henry Francis Lyte aus dem Jahr 1847 zu seiner Hymne „Abide with Me“. Quelle: Henry Francis Lyte (1793-1847) – his life and times“ by Evelyne Miller
Die frühe Familiengeschichte von Henry Francis Lyte ist von Verlusten und dem Gefühl des Verlassenseins geprägt. Schon in jungen Jahren musste Lyte erleben, wie sich seine Eltern trennten und aus seinem Leben verschwanden. Auch seine Geschwister verlor er aus den Augen: Der eine ging vermutlich mit dem Vater fort, der andere starb gemeinsam mit der Mutter in England, ohne dass Henry je erfuhr, was mit ihnen geschehen war. Zurück blieb ein neunjähriger Junge – allein, ohne finanzielle Mittel, ohne Familie.
„(…) he abandoned his family and went to live in Jersey. Henry’s brother, Thomas, may have gone with him, or, he may have stayed at school in Enniskillen. Either way, there is no record of him from this point on. Anna Maria and her son George went back to England where, after a short time, both died and Henry never knew what had happened to them. He found himself, at the age of nine, alone and without any means of support.“
„Henry Francis Lyte (1793-1847) – his life and times“ von Eveline Miller
Eine zweite, prägende Stelle in Lytes Biographie, betrifft eine spirituelle Erfahrung etwa um 1816 oder 1817 – also zu Beginn seiner geistlichen Laufbahn. Lyte pflegte eine enge Freundschaft mit einem schwer kranken Mitgeistlichen oder Bekannten, der im Sterben lag. Der Name dieses Mannes wird in vielen Quellen nicht überliefert; mal wird er als „dying clergyman“, mal als „friend in ministry“ bezeichnet. Das Oxford Dictionary of National Biography benennt diese Person als „Abraham Swanne“., Doch entscheidend ist nicht der Name, sondern die Wirkung, die diese Begegnung auf Lyte hatte: Am Sterbebett dieses Freundes durchlebte er eine spirituelle Erschütterung, die sein ganzes Denken veränderte. Er selbst schrieb später, dass sich ihm in diesem Moment die Bedeutung von Jesu Leiden und Auferstehung zum ersten Mal wirklich erschlossen habe. Er habe, so unterschiedliche Quellen, danach begonnen auch intensiver zu predigen und sich mehr mit Erlösungstheologie auseinanderzusetzen.
„It was while at Marazion that Lyte underwent a spiritual experience at the deathbed of a neighbouring clergyman, Abraham Swanne. Lyte claimed that this encounter altered his whole view of life: he emerged with a deeper faith, and preached with a new vitality.“
Oxford Dictionary of National Biography, 2004
Download Noten als PDF
Download der Noten mit der mehrstimmigen Melodie von William Henry Monk (1861):
- Noten für Abide with Me (Sopran und Alt) in Eb-Dur als PDF
- Noten für Abide with Me (Tenor und Bass) in Eb-Dur als PDF
Beginnend in der Zeit nach der Sterbebegleitung 1816/17 und bis zu seinem Tod 1847 litt Henry Francis Lyte an einer chronischen Lungenerkrankung, vermutlich Tuberkulose – jener Krankheit, an der 1921 auch John Keats gestorben ist, Autor des unvollendeten Gedichts Hyperion (siehe auch unsere gleichnamige Folge über Dan Simmons‘ Roman „Hyperion“). Trotz seiner schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung blieb Lyte seiner Berufung treu: Er predigte weiterhin regelmäßig und war seelsorgerlich tätig. Auf ärztlichen Rat, zur Erholung ein milderes Klima aufzusuchen, unternahm er regelmäßig Reisen nach Europa, insbesondere in die Schweiz und an die südfranzösische Küste, in der Hoffnung.
Den Sommer 1847 verbrachte Lyte in Berry Head, wo er – geschwächt und inspiriert – sein bekanntestes Kirchenlied Abide with Me schrieb. Am 1. Oktober 1847 verließ er England erneut Richtung Süden. Bevor er abreiste, ließ er eine Kopie von Text und Musik bei seiner Tochter zurück, nahm jedoch das Original zur weiteren Überarbeitung mit sich. Aus Avignon schickte er schließlich das fertige Manuskript heimwärts – wohl wissend, dass er höchstwahrscheinlich nie mehr heimkehren würde.
Als er Nizza erreichte, verschlechterte sich sein Zustand drastisch. Am 20. November 1847 starb Henry Francis Lyte im Alter von 54 Jahren im Hôtel de Angleterre. In seinen letzten Stunden war Reverend Manning, der spätere Erzbischof von Westminster, an seiner Seite, der zufälligerweise im gleichen Hotel wohnte. Zwei Tage später wurde Lyte auf dem englischen Friedhof der Holy Trinity Church in Nizza beigesetzt.
„A volume of Remains, consisting of poems, sermons, and letters, was published in 1850. It included Abide with me, which was first sung (to his own tune) at his memorial service in Brixham in 1847.“
The Dictionary of Ulster Biography
Pop-Kultur
In der Episode versucht Micz rauszuarbeiten, dass „Abide with Me“ mit dem prägnant dissonanten „Help“ vielleicht Inspiration für „Help!“ von den Beatles gewesen ist. Zweifelsohne eine steile These, aber verbindet beide Lieder doch die tiefe, existenzielle Sehnsucht nach Beistand in Zeiten innerer Not. Während Lytes Kirchenlied Gott als verlässliche Zuflucht im Angesicht von Krankheit und Tod anruft, artikuliert John Lennon in „Help!“ ein persönliches, fast verzweifeltes Rufen nach Halt und Orientierung in einer sich verändernden Welt. Beide Werke spiegeln den Wunsch nach Trost und eine Rückbesinnung auf etwas Größeres wider, wenn das eigene Ich ins Wanken gerät.
Als zweite gewagte Inspiration für die Pop-Kultur zaubert Micz das Zitat von Lyte aus dem Hut: „Better to wear out than to rust out“. Übersetzt in das 20te Jahrhundert liest es sich wie Neil Youngs Zeile „It’s better to burn out than to fade away“ aus ‘Hey Hey, My My (Into The Black)’, die später Kurt Cobain in seinem Abschiedsbrief zitierte. So hat es Lyte über Umwege wieder in die Kirche geschafft, denn in der ikonischen Kirchenszene aus „Highlander“ ruft „the“ Kurgan der Gemeinde zu: „I’ve got something to say: It’s better to burn out than to fade away“. Was Flo von diesen steilen Thesen hält? Listen and learn.










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