EGL027 Was ist eigentlich Gestalttherapie?
Wir sind am Hauptbahnhof verabredet, um über Gestalttherapie zu sprechen. Denn inzwischen ist Gestalttherapie relativ bekannt -- da hat sich in den letzten zehn oder zwanzig Jahren was getan. Wer hätte das gedacht, feierte sie doch vielleicht Ihre größten Erfolge in Amerika der 1960er oder 70er Jahre? Als eine der wichtigsten humanistischen Therapien, die sich nicht primär mit der Beseitigung von Störung, sondern auch mit Wachstum, Identität und Ressourcen beschäftigte, passte sie in die Zeit der Individualisten und utopischen Gedanken zu Gesellschaft, Kapitalismus und Zusammenleben. Über diese Zeit sprechen wir gar nicht in diesem Podcast, aber Flo fordert zum Schluss: vielleicht sollte es noch einen zweiten Teil geben.
Shownotes
- Laufroute
- EGL027 | Wanderung | Komoot
- Links zur Episode
- Malteserkreuz / Malteserkreuzgetriebe
- Tonillusionen bei Super Mario World
- Was ist Gestalttherapie? Auf der Seite der deutschen Vereinigung für Gestalttherapie
- Vorder- und Hintergrund
- Figur-Hintergrund-Bildung
- Topdog versus Underdog
- Die Gegenwart, das Hier und Jetzt
- Eine Erklärung des Begriffs 'Gestalt'
- Katharina Stahlmann: Gestalttherapie und Anarchie
- Gestalttherapie in Adam Curtis' "The Century of the Self"
- Video: Demonstrating the Gestalt approach to anxiety, Dr. Frederick Perls works with a young woman who is self-conscious about her height and with a man troubled by memories of war
- Buch auf Archive.org: Ego, hunger, and aggression; the beginning of gestalt therapy by Perls, Frederick S
- Laura (bzw. Lore) Perls, geboren in Pforzheim
- Fritz Perls
- Paul Goodman
- Ralph F. Hefferline: Der unbekannte Gestalttherapeut
- The Paul Goodman Reader at the Internet Archive
- Fritz Perls: Was ist Gestalttherapie? Ein fast vergessenes Interview
- Christian von Ehrenfels – Wikipedia
- Gestaltpsychologie - Lexikon der Psychologie
- Kontaktstörungen (Lexikon der Gestalttherapie)
- Art Critics Orchestra | 20th Anniversary
- Cuckoocaster
Transcript
Die Gestalttherapie wurde im wesentlichen von Frederick S. Perls (später „Fritz“ genannt, Psychiater und Psychotherapeut), Laura Perls (geb. Posner, Gestaltpsychologin und Psychoanalytikerin) und Paul Goodman (Soziologe, Autor und Psychotherapeut) entwickelt und legt den Fokus auf das gegenwärtige Erleben und die persönliche Verantwortung des Individuums.
Der Begriff „Gestalt“ stammt aus der Gestaltpsychologie und bedeutet am ehesten „Form“ oder „Gefüge“ und wird jedoch oft als „Herstellen“ oder „Kreieren“ missverstanden. Die Gestaltpsychologie, die von Christian von Ehrenfels, Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka entwickelt wurde, betonte die Bedeutung der Wahrnehmung von Ganzheiten oder „Gestalten“. Sie argumentierten, dass unser Geist nicht nur aus isolierten Elementen besteht, sondern dass wir die Welt um uns herum als organisierte und sinnvolle Einheiten wahrnehmen.
Bevor man sich für die Bezeichnung „Gestalttherapie“ entschied, waren auch „Existentialtherapie“ und „Konzentrationstherapie“ Kandidaten für die Benamsung des Verfahrens. Der Verweis auf den Existentialismus im ersten Fall bezieht sich auf die Rolle der Verantwortung und der Dialogphilosophie (vor allem des Philosophen Martin Buber) in den therapeutischen Prozessen. Konzentrationstherapie war der Versuch die Rolle des „Gewahrseins“ im Namen festzuhalten, das in der therapeutischen Arbeit eine wichtige Rolle spielt und ungefähr dem heutigen Verständnis der „Achtsamkeit“ entspricht.
Das erste Buch von F. Perls, dass die Gestalttherapie schon erkennen lässt ist „Das Ich, der Hunger und die Aggression“ von 1942. 1951 erscheint dann „Gestalt therapy: Excitement and growth in the human personality“ gemeinsam mit Paul Goodman und Ralph F. Hefferline. Die Gestalttherapie betrachtet den Menschen als ganzheitliches Wesen und betrachtet seine Erfahrungen, Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen als Teil eines größeren Ganzen. Ein zentraler Ansatzpunkt der Gestalttherapie ist das Hier und Jetzt. Der therapeutische Prozess hilft Klient:innen, sich mittels Gewahrsein bewusst zu werden und das gegenwärtige Erleben zu erforschen. Dabei werden vor allem Körperempfindungen, Gefühle und nonverbale Ausdrucksweisen berücksichtigt.
Die Gestalttherapie arbeitet auch mit verschiedenen Techniken und Methoden, um den Klienten zu unterstützen. Am bekanntesten ist sicherlich die Arbeit mit Stühlen, die in letzten Jahren durch die Schematherapie viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Andere Methoden sind z.B. Rollenspiele, Traumarbeit, Imaginationsübungen und kreative Ausdrucksformen. Der Fokus liegt darauf, Klient:innen dabei zu unterstützen, ihre eigenen Ressourcen zu entdecken, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und ihre Beziehungen zu verbessern.
In Deutschland wird die Gestalttherapie nicht von den Krankenkassen erstattet, die Kosten müssen also von den Klient:innen gezahlt werden. Die Gestalttherapie wird in verschiedenen Settings angewendet, wie Einzeltherapie, Gruppentherapie, Paartherapie oder Familientherapie. Sie kann bei einer Vielzahl von psychischen Problemen und persönlichen Entwicklungsthemen eingesetzt werden, wie z.B. Angststörungen, Depressionen, Beziehungsproblemen, Selbstwertproblemen und Identitätsfragen.
Als zentrales Merkmal der Gestalttherapie in Abgrenzung zu anderen Verfahren verstehe ich das prozesshafte Arbeiten. Es bezieht sich auf die Betonung des gegenwärtigen Erlebens und der Aufmerksamkeit auf den laufenden Prozess im Therapieraum. Statt sich nur auf vergangene Ereignisse oder auf Ziele zu konzentrieren, richtet die Gestalttherapie den Fokus auf das Hier und Jetzt und auf das, was im Moment geschieht. Der Therapeut unterstützt den Klienten dabei, sich bewusst zu werden, wie er sich fühlt, welche Gedanken und Impulse auftauchen und wie er sich körperlich ausdrückt. Durch die Aufmerksamkeit auf den aktuellen Prozess können verborgene Muster, unvollendete Erfahrungen und unbewusste Dynamiken ans Licht kommen.
Damit eng verbunden ist die „Kontaktkurve“, das den Verlauf des Kontakts und der Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt, anderen Menschen oder auch inneren körperlichen Prozessen beschreibt. Sie umfasst verschiedene Phasen und Dynamiken, die sich im therapeutischen Prozess entfalten können. Die dazugehörigen Kontaktfunktionen (oder -störungen) wie Konfluenz, Introjekte, Projektion und Retroflektion besprechen wir auch in dieser Episode. Die Gestalttherapie nutzt die Kenntnis der Kontaktkurve, um den Klienten dabei zu unterstützen, bewusster und authentischer in Beziehung zu treten. Der Therapeut hilft dabei, die verschiedenen Dynamiken zu erkennen, Verantwortung zu übernehmen und neue Möglichkeiten für einen gesunden Kontakt und eine reichhaltige Interaktion mit der Umwelt zu entwickeln.
Da jeder Kontaktkurve eine neue folgt, wir immer im Feld in Kontakt sind und die Prozesse nicht aufhören zu fließen, gilt natürlich: auch wenn die Episode geschlossen ist, bleiben hoffentlich viele Fragen offen.
In dieser Episode werden Evidenzstudien angesprochen. Dabei handelt es sich um diese:
Tschuschke, V., von Wyl, A., Koemeda-Lutz, M. et al. Bedeutung der psychotherapeutischen Schulen heute. Psychotherapeut 61, 54–65 (2016).
https://doi.org/10.1007/s00278-015-0067-y
FAZIT: Psychotherapeuten unterschiedlicher konzeptueller Ansätze setzen weitgehend ähnliche Interventionstechniken ein, indem ein Großteil aller Interventionen allgemeiner, nichtspezifischer Natur ist, der eine optimierte menschliche Kommunikation darstellt. Therapeuten sollten gegenüber ihrem gelernten Therapieverfahren eine gelassene, flexible Haltung einnehmen. Rigide oder unflexible Umsetzungen von Techniken aus gelernten psychotherapeutischen Konzepten scheinen ungünstig zu sein. Die Sicherstellung eines tragfähigen, vertrauensvollen Arbeitsbündnisses muss Priorität haben, etwa indem konzeptkonforme Interventionen zugunsten allgemeiner, nichtspezifischer Techniken zurückgestellt werden, insbesondere zu Beginn der Behandlung und bei belasteten Arbeitsbündnissen, z. B. bedingt durch das Ausmaß der psychischen Belastung des Patienten. Professionelle Therapie scheint den Ergebnissen zufolge eine geglückte und stimmige Integration optimierter Kommunikations- und Beziehungstechniken mit zusätzlichen Techniken anderer Konzepte und den eigenen, gelernten darzustellen.
Tschuschke, V., Koemeda-Lutz, M., von Wyl, A. et al. The Impact of Clients’ and Therapists’ Characteristics on Therapeutic Alliance and Outcome. J Contemp Psychother 52, 145–154 (2022).
https://doi.org/10.1007/s10879-021-09527-2
ABSTRACT: This article investigates distances between therapists and their clients in their experience of the therapeutic alliance across the duration of the psychotherapeutic treatments in a naturalistic study. We looked at the working alliances from different vantage points—rupture, repair of ruptures, distances in the alliance impressions of both clients and therapists—and their correlation with treatment outcome. The only predictive variable of alliance ruptures was the inability of therapists to bond sufficiently with their clients regarding a sustainable working atmosphere, which could be identified through a continuous distant alliance rating by the therapists. Alliance ruptures in turn significantly predicted premature termination of treatments, whereas alliance ruptures per se did not necessarily predict treatment outcome. The paper discusses the possible role of the quality of therapists’ attachment styles as a potentially crucial variable in an effective working alliance in psychotherapy.
Schreibe einen Kommentar