EGL071 Nosferatu 2024 – Robert Eggers reaktionäres Remake
Eigentlich-Podcast diesmal im Sitzen ohne zu laufen. Chris und Flo konnten es kaum abwarten, über Robert Eggers' Nosferatu zu sprechen, also haben wir eine Remote-Sendung aufgenommen: Chris in Berkeley und Flo in Berlin, ein klassischer Podcast ganz ohne Schnaufen und Nebengeräusche. Robert Eggers hat ein Remake des über 100 Jahre alten Proto-Horrorfilms "Nosferatu" von Friedrich Murnau gedreht. Die Geschichte orientiert sich stark an Murnaus Original: Storylines, Figuren und Handlungsorte werden in Eggers Verfilmung auf Hochglanz poliert. Es wirkt fast so, als hätte Eggers Murnaus Film Bild für Bild durch die generative KI gejagt und dabei das Pacing heruntergeschraubt. Alles ist ein bisschen runder, brutaler, dunkler, langsamer. Mehr aber auch nicht, meint Flo. Die Erscheinung von Nosferatu hat im Original wesentlich mehr kinematographische Kraft als im Remake. In Eggers Nosferatu trägt Orlok einen lächerlichen Schnurrbart und hat eine Beule auf dem Kopf, von der man nicht weiß, ob sie die wegfliegende Schädeldecke oder eine Schmalzlocke darstellen soll. Chris hält dagegen, dass Eggers mit der Figur des Orloks und seiner Verbindung zu Ellen etwas Neues geschaffen hat: In jungen Jahren, in Einsamkeit und sexueller Verzückung, beschwört Ellen das Monster herauf. Dadurch entsteht eine starke Bindung, die dann auch ganz deterministisch den Tod für beide bedeutet. Diesen Aspekt hat noch keine Dracula- oder Nosferatu-Geschichte in der Schärfe erzählt. Wir gehen sogar so weit, die Figurenkonstellation nach den Theorien von Jacques Lacan zu interpretieren: Ellen richtet sich als begehrendes Subjekt auf das Unmögliche, verkörpert durch Graf Orlok, der als das Reale jenseits der symbolischen Ordnung steht. In dieser Konstellation spiegelt sich die fundamentale Spaltung des Subjekts zwischen gesellschaftlicher Ordnung (symbolisiert durch Ellens Ehe mit Thomas Hutter) und dem transgressiven Begehren nach dem Unmöglichen. Orlok fungiert als Objekt klein a, als unerreichbare Ursache des Begehrens, während Ellen in ihm zugleich eine gespenstische Spiegelung ihrer eigenen verbotenen Sehnsüchte erkennt. Die drei Register - das Symbolische (bürgerliche Ordnung), das Imaginäre (Ellens Fantasien) und das Reale (Orlok/Tod) - verschränken sich in einer Bewegung, die unweigerlich zum Tod führt. Ellens finale Selbstopferung kann als ultimative Erfüllung des Begehrens gesehen werden, in der sich das Subjekt im Moment der Vereinigung mit dem Unmöglichen selbst auslöscht - ganz im Sinne von Lacans These, dass die vollständige Erfüllung des Begehrens nur im Tod möglich ist. Das klingt soweit ganz gut, aber was uns an dem Film stört, ist der Determinismus, der der Handlung, den Figuren und allem zugrunde liegt. Er manifestiert sich in der absoluten Vorherbestimmung der Ereignisse, im Drehbuch, das wie eine Anleitung gesehen werden kann. Wie eine Turingmaschine durchläuft der Film diese deterministische Kette, in der die einzelnen Szenen Stück für Stück nach den vorher festgelegten Algorithmus durchexekutiert werden. Alles, was geschieht, ist bereits vorherbestimmt, und die Figuren können diesem Schicksal nicht entkommen. Besonders deutlich wird dies in der fatalistischen Opferrolle Ellens, die sich in ihr vorherbestimmtes Schicksal fügen muss, um die Gesellschaft zu retten. Hier kann man Eggers eine reaktionäre Haltung vorwerfen, da sie jegliche menschliche Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung negiert und stattdessen eine höhere, unveränderliche Ordnung postuliert. In Zeiten des Klimawandels und des Demokratieverlusts wünschen wir uns eher eine Haltung, die sozialen Wandel und Handlungsfreiheit propagiert. Das finden wir in Eggers "Nosferatu" nicht.
Shownotes
- Links zur Laufstrecke
- EGL071 | Wanderung | Komoot
- Links zur Episode
-
https://de.wikipedia.org/wiki/Nosferatu_%E2%80%93_Der_Untote
-
Robert Eggers – Wikipedia
-
Midsommar (2019) – Wikipedia
-
Ari Aster – Wikipedia
-
A24 (Unternehmen) – Wikipedia
-
The Witch (Film) – Wikipedia
-
Der Leuchtturm (2019) – Wikipedia
-
Willem Dafoe – Wikipedia
-
Lily-Rose Depp – Wikipedia
-
Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens – Wikipedia
-
Friedrich Wilhelm Murnau – Wikipedia
-
Nosferatu – Phantom der Nacht – Wikipedia
-
Werner Herzog – Wikipedia
-
Isabelle Adjani – Wikipedia
-
Klaus Kinski – Wikipedia
-
Bram Stoker – Wikipedia
-
Dracula (Roman) – Wikipedia
- convex tv.
-
The Northman – Wikipedia
-
Hamlet – Wikipedia
-
Slavoj Žižek – Wikipedia
-
Bram Stoker’s Dracula – Wikipedia
-
Der Elefantenmensch – Wikipedia
-
David Lynch – Wikipedia
-
Vampir – Wikipedia
-
Zombie – Wikipedia
- Vampirfledermäuse spenden untereinander Blut - Wissen - SZ.de
-
Johann Wilhelm Ritter – Wikipedia
-
Robert Eggers on Nosferatu
-
Hereditary – Das Vermächtnis – Wikipedia
-
Beau Is Afraid – Wikipedia
-
Oppenheimer (2023) – Wikipedia
-
Buffy – Der Vampir-Killer – Wikipedia
-
Europa (1991) – Wikipedia
- dread – Wiktionary
-
Chronik eines angekündigten Todes – Wikipedia
-
Edge of Tomorrow – Wikipedia
-
Jacques Lacan – Wikipedia
-
Strukturalismus – Wikipedia
-
Poststrukturalismus – Wikipedia
-
Das Reale – Wikipedia
-
Spiegelstadium – Wikipedia
-
Das Imaginäre – Wikipedia
-
Das Symbolische – Wikipedia
-
Objekt klein a – Wikipedia
Transcript
Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922)
Der Film „Nosferatu“ von Murnau beginnt in der fiktiven deutschen Stadt Wisborg. Der Immobilienmakler Hutter wird von seinem Arbeitgeber Knock beauftragt, zum Graf Orlok nach Transsylvanien zu reisen, um einen Hausverkauf abzuwickeln. Hutter lässt seine junge Frau Ellen bei Freunden zurück und macht sich auf die Reise. In den Karpaten wird er von abergläubischen Einheimischen gewarnt und findet in einem Gasthaus ein Buch über Vampire.Im Schloss des Grafen wird Hutter zunächst gastfreundlich empfangen, bemerkt aber bald unheimliche Vorkommnisse.Als Orlok Hutters Medaillon mit einem Bild von Ellen sieht, ist er von ihr fasziniert. In der darauffolgenden Nacht wird Hutter von Orlok angegriffen, der sich als Vampir zu erkennen gibt.Parallel dazu spürt Ellen in Wisborg eine telepathische Verbindung zu den Ereignissen.Orlok macht sich mit Särgen voller Erde auf den Weg nach Wisborg, während Hutter verzweifelt versucht, vor ihm dort einzutreffen.Auf dem Schiff, das Orlok transportiert, sterben nach und nach alle Besatzungsmitglieder an der „Pest“. Das als Geisterschiff bezeichnete Schiff läuft in Wisborg ein, Ratten strömen von Bord und verbreiten die Seuche in der Stadt. Orlok bezieht das gegenüber von Hutters Haus gekaufte Gebäude und hat von dort die Stadt und Ellen in seiner Gewalt. Die Stadt verfällt in Chaos und Tod durch die Seuche.Ellen, die das Buch über Vampire gelesen hat, erkennt, dass nur eine reine Frau den Vampir besiegen kann, indem sie ihn bis zum ersten Hahnenschrei bei sich hält. Die Protagonistin opfert sich, um Orlok zu sich zu locken und ihn so in einen Zustand der Immobilität zu versetzen, bis die Morgensonne ihn auflöst. Auf diese Weise wird die Stadt gerettet, jedoch findet Ellen in den Armen ihres zurückgekehrten Mannes den Tod. Der Film verbindet auf geschickte Weise Elemente des deutschen Expressionismus mit der Vampir-Mythologie und schafft durch seine visuelle Gestaltung eine einzigartig unheimliche Atmosphäre, die den Film zu einem Meilenstein des Horror-Genres macht.
Nosferatu – Phantom der Nacht (1979)
In der Adaption von Herzog wird die Grundhandlung des Originals weitgehend beibehalten, jedoch mit einigen bemerkenswerten Änderungen und Erweiterungen versehen. Die Figur Jonathan Harker (nicht Hutter) reist in Herzog nicht von Wismar (nicht Wisborg), sondern von einer anderen Lokalität nach Transsylvanien. Herzog verwendet deutlich mehr Zeit auf die Reise selbst und die Darstellung der mystischen Natur. Die Darstellung des Dracula durch Klaus Kinski ist melancholischer und existentieller geprägt, was einen großen Unterschied zur raubtierhaften Darstellung in Murnaus Film darstellt. Die Rolle der Lucy, gespielt von Isabella Adjani, ist komplexer ausgearbeitet und repräsentiert nicht nur ein passives Opfer, sondern eine bewusst handelnde und selbstbestimmte Person. Eine signifikante Abweichung vom Original ist das Ende: Nachdem Dracula durch Lucys Opfer vernichtet ist, wird Harker selbst zum Vampir und reitet als neuer Nosferatu davon, was einen zyklischen Charakter der Geschichte suggeriert. Herzog fügt außerdem surreale Elemente hinzu, wie die Szenen mit den Ratten (20.000 echte Ratten wurden verwendet) und die alptraumhaften Sequenzen der pestverseuchten Stadt. Die Atmosphäre ist weniger expressionistisch als bei Murnau, sondern naturalistischer und romantischer, mit einem stärkeren Fokus auf existenzielle Themen und die tragische Dimension des Daseins als Vampir.
Bram Stokers „Dracula“ (1897)
Stoker konstruiert den Roman als komplexer Briefroman, der sich aus verschiedenen Txtsorten wie Tagebucheinträgen, Briefen und Zeitungsartikeln zusammensetzt.Diese narrative Struktur erlaubt es dem Autor, die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen und dabei sowohl die äußeren Ereignisse als auch die inneren Konflikte der Charaktere zu beleuchten.
Die Handlung des Romans setzt ein mit den Tagebucheinträgen des jungen Anwalts Jonathan Harker, der nach Transsylvanien reist, um einen Immobilienkauf in London abzuwickeln. Die geschäftliche Reise entwickelt sich zunehmend zu einem Albtraum, da sich Harker im Schloss zunächst höflich, dann jedoch zunehmend unheimlich behandelt sieht. Er erkennt, dass sein Gastgeber ein Vampir ist, der nachts in den Wänden kriecht und ihn faktisch gefangen hält.Dracula plant seine Übersiedlung nach London und lässt einen geschwächten Harker zurück, der nur knapp mit dem Leben davonkommt.In England verlagert sich die Handlung zunächst auf Lucy Westenra, die beste Freundin von Harkers Verlobter Mina Murray. Sie wird zum ersten Opfer des nach London übersiedelten Dracula und beginnt zu kränkeln. Trotz der Bemühungen ihrer drei Verehrer – Dr. John Seward, Arthur Holmwood und Quincey Morris – sowie des hinzugezogenen Experten Professor Abraham Van Helsing kann sie nicht gerettet werden. Selbst mehrere Bluttransfusionen können ihren Tod nicht verhindern. Lucy selbst wird zum Vampir und muss von der Gruppe nach traditioneller Art durch Pfählung und Enthauptung endgültig zur Ruhe gebettet werden.Nach Harkers Rückkehr wendet sich Dracula Mina zu, was den Roman in eine entscheidende Phase führt.Die Gruppe der Vampirjäger formiert sich unter der Führung Van Helsings, der sein umfangreiches Wissen über Vampire teilt. In dieser Phase des Romans manifestiert sich eine komplexe Dynamik zwischen modernem, wissenschaftlichem Denken und altem, folkloristischem Wissen.
Mina wird von Dracula gebissen und entwickelt eine telepathische Verbindung zu ihm, die für die Verfolgung der Gruppe genutzt werden kann.Diese Verbindung symbolisiert die unterschwellige erotische Spannung des Romans, die im Kontext der viktorianischen Moralvorstellungen als besonders brisant angesehen wird.Die finale Jagd führt die Gruppe zurück nach Transsylvanien, wo sie systematisch Draculas Verstecke und seine Kisten mit geweihter Erde zerstören. Im finalen Duell wird Dracula von Harker und Morris mit einem Messer durch das Herz und eine durchschnittene Kehle getötet, wobei Morris sein Leben lässt.Mina wird von ihrem vampirischen Zustand erlöst, was den Sieg der „zivilisierten“ westlichen Welt über die „barbarischen“ östlichen Mächte symbolisiert.
Der Roman ist von den Spannungen seiner Zeit durchdrungen, die sich in der Konfrontation zwischen Wissenschaft und Aberglauben, zwischen westlicher „Zivilisation“ und östlicher „Barbarei“, zwischen unterdrückter und entfesselter Sexualität äußern. Er verarbeitet koloniale Ängste ebenso wie die Furcht vor weiblicher Sexualität und dem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung. Stoker bedient sich dabei verschiedener moderner Technologien, wie etwa der Schreibmaschine und dem Phonographen, welche von den Protagonisten im Kampf gegen die alten, übernatürlichen Bedrohungen eingesetzt werden.Zudem ist anzumerken, dass die christliche Symbolik eine zentrale Rolle im Roman einnimmt und mit Elementen der Volksmythologie verwoben wird.Der Roman gilt als Grundlage des modernen Vampir-Mythos und hat unzählige Adaptionen inspiriert, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen und neue Interpretationen wagen.
Unterschiede zwischen Roman und Film
Die wesentlichen Unterschiede zwischen Stokers „Dracula“ und Murnaus „Nosferatu“ sind in erster Linie auf rechtliche Implikationen zurückzuführen. Da Murnau keine Rechte am Original besaß und Stokers Witwe Florence sich vehement gegen nicht autorisierte Adaptionen aussprach, musste die Geschichte substanziell modifiziert werden. Dies resultierte in einer kreativen Transformation des Materials, die paradoxerweise einen der einflussreichsten Horrorfilme hervorbrachte. Die auffälligsten Änderungen betreffen zunächst die Namen und Orte: Die Rollen der Hauptfiguren wurden entsprechend ihrer Herkunft bzw. ihrer Funktion angepasst (z. B. wurde Graf Dracula zu Graf Orlok, Jonathan Harker zu Thomas Hutter und Mina zu Ellen). Darüber hinaus wurde der Handlungsort von London nach Wisborg verlegt und die komplexe Romanhandlung von Stoker erheblich gestrafft. Die tragende Rolle von Van Helsing und der Gruppe der Vampirjäger wurde gestrichen, ebenso wie die Figur der Lucy und ihre Transformation zum Vampir.
Die Natur des Vampirs selbst wurde ebenfalls verändert. Während Stokers Dracula als aristokratischer, verführerischer Charakter dargestellt wird, der sich in verschiedene Gestalten verwandeln kann, manifestiert sich Murnaus Nosferatu als eine deutlich monströsere, rattenähnliche Kreatur. Diese Interpretation hat einen neuen Zweig der Vampir-Ästhetik geprägt und die Art der Vernichtung des Vampirs verändert. Im Roman wird Dracula durch Messer und Enthauptung getötet, in „Nosferatu“ wird er durch das Sonnenlicht aufgelöst, ein Element, das später zum Standard des Vampir-Genres wurde.
Die narrative Struktur erfährt grundlegende Veränderungen. Während der Roman durch verschiedene Dokumente, Briefe und Tagebucheinträge erzählt wird, nutzt Murnau die Möglichkeiten des Films für eine geradlinigere, jedoch visuell komplexere Erzählung. Zudem wird das wichtige Element des prophetischen Buches eingeführt, das den deterministischen Charakter der Geschichte unterstreicht – ein Element, das im Roman nicht existiert. Darüber hinaus wird die Rolle der weiblichen Hauptfigur neu interpretiert. Während sie im Roman eine aktive, aber dennoch den viktorianischen Moralvorstellungen entsprechende Figur ist, wird sie bei Murnau zur tragischen Erlöserfigur, die sich bewusst opfert. Diese christliche Symbolik ist im Film deutlich stärker ausgeprägt als im Roman.
Die Verbindung von Vampirismus und Seuche wird bei Murnau viel expliziter dargestellt. Während die „Unreinheit“ des Vampirs im Roman eher metaphorisch zu verstehen ist, bringt Nosferatu buchstäblich die Pest in die Stadt, was dem Film eine zusätzliche gesellschaftskritische Dimension verleiht.Diese erzwungenen Änderungen führten letztlich zu einer eigenständigen Interpretation des Vampir-Mythos, die in ihrer expressionistischen Bildsprache und symbolischen Tiefe neue Maßstäbe setzte. Trotz des Rechtsstreits und der versuchten Vernichtung aller Kopien überlebte der Film und wurde selbst zu einer einflussreichen Quelle für spätere Adaptionen.Die Unterschiede zum Roman veranschaulichen, wie kreative Einschränkungen zu künstlerischer Innovation führen können.
Schreibe einen Kommentar