EGL078 Das Rote Buch: C.G. Jung als Religionsstifter oder Wissenschaftler?
Zwischen Empirie und Vision, Wissenschaft und Glauben. Wir nehmen uns der Frage an: Wie unterscheidet sich klassische empirische Forschung von C.G. Jungs Ansatz einer "neuen empirischen Psychologie"? Jung verstand unter Empirie nicht nur die systematische Beobachtung äußerer Phänomene, sondern auch die methodische Erkundung innerer Erlebniswelten. Für viele überschreitet er spätestens da die Grenzen der Wissenschaft, indem er subjektive Überzeugungen in seine Methodik mit einschließt. Seine Psychologie basiert auf der Überzeugung, dass solche subjektiven Erfahrungen, insbesondere Träume, Imaginationen und archetypische Bilder, wissenschaftlich ernst genommen und erforscht werden können. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht *Das Rote Buch*, eine Art psychologisches Tagebuch und zugleich ein symbolisch verdichteter Erfahrungsraum, in dem Jung seine eigenen inneren Bilder und psychischen Prozesse dokumentierte und interpretierte. Die über zehn Jahre dauernde Entstehung des Buches werden auch beschrieben als eine Zeit, in der Jung fast schon psychotische Phasen hatte und regressiv mit Holzklötzen seiner Kindheit spielte. Schwer erschüttert von der Trennung Freuds, öffnete er seine tiefenpsychologische Theorie symbolischen, mythologischen und spirituellen Dimensionen. Ist das noch Wissenschaft? Tune in an find out (what we think).
Shownotes
- Links zur Laufstrecke
- Eigentlich Podcast EGL078 Tour
- Links zur Folge
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Carl Gustav Jung - Wikipedia
- C.G. Jung-Institut Zürich
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Sternstunde Philosphie - Das Rote Buch von C.G. Jung YouTube
- Jungs Methode der aktiven Imagination erklärt
- Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie : Buch 1, Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserl, Edmund
- Alien: Covenant, Film 2017, Regie: Ridley Scott
- Contact, Film 1997, Regie: Robert Zemeckis
- Die Empirie des Übersinnlichen (Hauke Heidenreich) C. G. Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten als Umdeutung Kants zwischen Okkultismus, Religion und Parapsychologie
- Placebo auf Wikipedia
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Chaosforschung
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Buch: Das Rote Buch von C.G. Jung (Abschnitt auf Wikipedia)
- Jonathan Strange & Mr. Norrell, Susanna Clarke, 2004
- Chaosforschung: Chaos im Kopf?: Die nichtlineare Dynamik kann helfen, epileptische Anfälle vorherzusagen und das Erregerzentrum zu lokalisieren
Transcript
Unsere Tour führt uns durch das Wuhletal in Berlin. Der Blick auf die Karte zeigt den schmalen Korridor der Natur, den wir mitten in der Stadt ablaufen. Das Erleben passt zur Folge: was wir Erleben, wie etwas scheint und was daran wirklich ist. Wir sprechen ja wieder über C.G. Jung, der sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Symbolik, von klinischer Psychologie und spiritueller Erfahrung bewegt. Ganz speziell werden wir in dieser Folge auch eine Passage aus dem „Das Rote Buch“ vorlesen. Wir sind beides: wohlwollend und kritisch. Kurzum: wir werden es niemandem recht machen.
Im Zentrum Jungs „neuer empirischen Psychologie“ steht die These, dass das Subjekt selbst – mit all seinen inneren Bildern, Affekten und Bedeutungszuschreibungen – nicht als Störgröße, sondern als Ursprung jeder Erkenntnis begriffen werden muss. Ausgehend von Jungs Biografie, insbesondere seiner Kindheitserfahrungen und der Trennung von Freud, untersucht dieser Essay das Rote Buch als ein paradigmatisches Werk individueller Empirie. Zugleich wird eine kritische Reflexion der klassischen wissenschaftlichen Methodologie geboten und gefragt, inwiefern Phänomene wie Placeboeffekte, archetypische Bilder oder chaotische Selbstorganisation eine Erweiterung unseres empirischen Selbstverständnisses notwendig machen.
Die klassische Wissenschaft versteht sich als objektiv, messbar und wiederholbar – ihre Verfahren beruhen auf einer möglichst großen Distanz zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt. In der Psychologie allerdings stößt dieses Paradigma an seine Grenzen. Denn hier ist der Mensch nicht nur Beobachter, sondern auch Träger, Produzent und Medium der untersuchten Phänomene. C.G. Jung nahm diese Spannung ernst – und schlug einen radikal subjektiven Weg ein, den er dennoch als empirisch verstand.
Bereits in seiner Kindheit hatte Jung intensive innere Erlebnisse: Halluzinationen, Visionen, symbolische Bilder. Besonders prägend war die Szene auf dem Münsterplatz in Basel, in der ihm ein blasphemischer Gedanke erschien – und er diesen schließlich als göttlich inspiriert akzeptierte. Daraus leitete er eine persönliche Religiosität ab, die jenseits von Dogma und Institution lag: die direkte, psychische Erfahrung des Numinosen. Die Kirche, so sein Fazit nach der enttäuschenden Erstkommunion, sei für ihn „ein Ort des Todes“.
Zwischen 1914 und 1930 entstand das Rote Buch, ein visuelles und textuelles Monument der Selbstbeobachtung. Nach der Trennung von Freud, die Jung in eine tiefe Krise stürzte, begann er, seine Träume, Imaginationen und inneren Stimmen systematisch zu erkunden – und festzuhalten. Die Technik der aktiven Imagination, bei der das Unbewusste in einen Dialog mit dem Ich tritt, bildete das methodische Zentrum dieser Arbeit. Was sich hier zeigt, ist eine radikale, persönliche, aber dennoch strukturierte Form empirischer Erkenntnis.
Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten, gespeist aus Mythen, Märchen und Archetypen, stellt die klassische Vorstellung individueller Erfahrung infrage. Auch in der klinischen Praxis – z.B. im Umgang mit Psychosen oder der Deutung von Symbolen – zeigt sich: Die Sprache der Seele ist keine lineare, sondern eine poetisch-symbolische. Das bedeutet auch: Psychische Symptome sind nicht bloß Störungen, sondern Träger von Bedeutung – und damit Teil einer subjektiven Sinnökonomie.
Wir machen einen kurzen Ausflug in sie Chaosforschung, die gezeigt hat, dass deterministische Systeme selbst bei minimalen Abweichungen unvorhersehbare Verläufe zeigen. Ursache und Wirkung müssen nicht so genau miteinander verknüpft sein, um von Naturwissenschaft sprechen zu können. Der Schmetterlingseffekt – entdeckt von Edward Lorenz – zeigt: Kleinste Ursachen können enorme Wirkungen haben. Die Chaosforschung ist auch der Neurophysiologie nahe, siehe das Beispiel zu Epilepsie in den Shownotes.
Wie durch ein Fenster öffnet sich zum Schluss noch ein literarischer Ausblick mit Jonathan Strange & Mr. Norrell auf den zweiten Teil der Episode. Die Episode endet nämlich ungeplant am höchsten Punkt der Tour.

















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