EGL060 The Zone of Interest: Glazers Film über die Banalität des Bösen und die Konstruktion von Normalität
In dieser Episode widmen wir uns nun dem Film "The Zone of Interest" nachdem wir in der vorherigen Episode den historischen Kontext des Holocaust und der Täter besprochen haben. Jonathan Glazers beeindruckendes Werk setzt sich mit der Thematik der Banalität des Bösen auseinander. Flo stellt zunächst den Regisseur Glazer vor, der bereits in den 90er Jahren durch seine Arbeit an Musikvideos bekannt wurde und seitdem einen ganz eigenen künstlerischen Stil entwickelt hat. Seine letzten Filme zeichnen sich durch eine verstörende, aber auch herausragende Ästhetik aus. Im Mittelpunkt des Films "The Zone of Interest" von 2023 stehen die historischen Figuren Rudolf Höß und seine Frau Hedwig. Die räumliche Nähe zwischen dem idyllischen Familienleben der Höß und dem Konzentrationslager Auschwitz, in dem unvorstellbare Gräueltaten verübt wurden, bildet den Hintergrund, vor dem Glazer sein Publikum herausfordert. Die Alltagsnormalität der Familie Höß steht in einem absurden Kontrast zu den grausamen Geschehnissen im KZ, wo Mord und Vergasung zum Tagesgeschäft gehörten. Wir fragen uns, wie Menschen eine solche Trennung zwischen persönlichem Glück und systematischem Terror aufrechterhalten können ohne moralisch zu zerbrechen. Flo stellt Glazers einzigartige Herangehensweise an den Film vor: Der eigentlichen Produktion gingen jahrelange Recherchen und Vorbereitungen voraus. Die Darsteller der Hauptfiguren, Sandra Hüller und Christian Friedel, haben sich in intensiven Gesprächen mit Jonathan Glazer auf die Figuren und den Filmstoff eingelassen. Das Team entschied sich, am Originalschauplatz in Auschwitz zu drehen, direkt in der "Zone of Interest", dem Interessensgebiet wie die Nazis euphemistisch das bewachte Gebiet um die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nannten. Dadurch erreicht der Film eine einzigartige Authentizität. Das Konzentrationslager selber wird jedoch nie gezeigt, nur die Tonspur lässt den Horror des Lagerlebens erahnen. Auch der orangefarbene Rauch, der nachts über der Lagermauer in den Himmel steigt, beherrscht die Stimmung im Hause Höß. Jonathan Glazer hat seinen Schauspieler:innen eine ungewöhnliche Freiheit in der Darstellung eingeräumt: Im nachgebauten Haus wurden Kameras installiert, die von einem polnischen Kamerateam ferngesteuert wurden. Auch die Regie war nicht direkt vor Ort, sondern beobachtete die Szenen vom Keller eines anderen Gebäudes aus. Die Regieanweisungen waren sehr reduziert, es blieb den Darstellenden überlassen, Szenen zu wiederholen oder zu improvisieren. Mit dieser Verfremdungstechnik gelingt es Glazer, den Zuschauer in die Köpfe der Figuren zu ziehen und gleichzeitig eine distanzierte, fast dokumentarische Perspektive aufzubauen. Micz stellt im zweiten Teil der Episode einen Ansatz von Klaus Theweleit aus dessen Buch "Männerfantasien" vor, um besser verstehen zu können, wie es historisch zu diesen gewaltbereiten Brigaden in den 20er Jahren kommen konnte zu denen auch Höß zählte. Theweleit untersucht, wie Männer in der Zeit des Nationalsozialismus ihre Identität und ihr Selbstbild konstruierten, oft durch die Abwertung von Frauen und die Idealisierung von Männlichkeit. Er argumentiert, dass diese Männerphantasien nicht nur individuelle psychologische Phänomene sind, sondern tief in gesellschaftlichen Strukturen verwurzelt sind. Abschließend reflektieren wir, wie der Film "The Zone of Interest" sowohl eine Kritik an der Menschheit als auch an der Gesellschaft formuliert. Er konfrontiert uns mit der Möglichkeit, dass „normale“ Menschen unter extremen Umständen unvorstellbare Entscheidungen treffen und damit die Grundlage für Massenterror schaffen können. Nach über 4 Stunden Aufnahmezeit (wir haben die beiden Episoden zu The Zone of Interest in einem Rutsch aufgenommen) sind wir doch ganz froh, dass wir jetzt mitten in Mitte am Rosa-Luxemburg-Platz zum Ende kommen.
Shownotes
- Links zur Laufstrecke
- EGL060 | Wanderung | Komoot
- Links zur Episode
- The Zone of Interest (Film) – Wikipedia
- Jonathan Glazer – Wikipedia
- YT: Playlist of Jonathan Glazer music videos
- Under the Skin (2013) – Wikipedia
- Scarlett Johansson – Wikipedia
- Sexy Beast – Wikipedia
- Birth (Film) – Wikipedia
- A24 (Unternehmen) – Wikipedia
- Martin Amis – Wikipedia
- Rudolf Höß – Wikipedia
- Hedwig Höß – Wikipedia
- Christian Friedel – Wikipedia
- Sandra Hüller – Wikipedia
- KZ Auschwitz I (Stammlager) – Wikipedia
- Klaus Theweleit – Wikipedia
- Freikorps – Wikipedia
- Carolin Emcke – Wikipedia
- Streitraum: »Gewalt und Film«
- The Act of Killing – Wikipedia
- Margaret Mahler – Wikipedia
- The Zone of Interest review – Jonathan Glazer adapts Martin Amis’s chilling Holocaust drama | Film | The Guardian
- Interview Jonathan Glazer on his holocaust film The Zone of Interest: ‘This is not about the past, it’s about now’
- https://www.youtube.com/watch?v=sfVcp8vuqcQ
- Jonathan Glazer & Team on The Zone of Interest and the Ethics of Representation | NYFF61
- Dogma 95 – Wikipedia
- Rudolf Höß: Was tat der Lagerkommandant von Auschwitz? | NDR.de - Geschichte - Auschwitz und ich
- Im Haus des NS-Mörders: Sequenzanalysen zu The Zone of Interest - kinofenster.de
- “The Zone of Interest” Is an Extreme Form of Holokitsch | The New Yorker
- NS-CLIQUEN Von Menschen und Mördern · Podcast in der ARD Audiothek
Transcript
Rudolf Höß: Vom Freikorps-Veteranen zum KZ-Kommandanten
In seinem Film „The Zone of Interest“ widmet sich Jonathan Glazer auf eindrucksvolle Weise der Banalität des Bösen. Dabei rückt er die alltägliche Realität der Familie Höß, insbesondere die von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, in den Fokus. Die Figur Rudolf Höß wird in der filmischen Darstellung als eine paradoxe Figur präsentiert. Er war kein sadistischer Massenmörder im klassischen Sinne, sondern ein durchschnittlicher, kleinbürgerlicher Mann, der seine Pflichten mit einer gewissen Ordnungsliebe und Pflichtbewusstsein erfüllte. Höß wurde 1901 geboren und war ein Kind seiner Zeit. Er wuchs in einer Ära auf, die von Männlichkeitskult und militärischer Glorifizierung geprägt war. In der Folge des Ersten Weltkrieges befand er sich in einer desorientierenden Welt, in der die Freikorps der 1920er Jahre vielen entwurzelten Kriegsveteranen eine neue Heimat boten. In diesen paramilitärischen Organisationen manifestierte sich, was Klaus Theweleit als „männlichen Körperpanzer“ beschreibt – eine psychische Struktur, die Gefühle abwehrt und Gewalt als Mittel der Selbstbestätigung glorifiziert. Die Entwicklung von Auschwitz von einem Internierungslager zu einer industriellen Tötungsmaschinerie veranschaulicht in beunruhigender Weise die Radikalisierung, die ihren Ursprung in den Freikorps hatte. Höß, der 1934 der SS beitrat und 1940 zum Kommandanten von Auschwitz ernannt wurde, verkörperte die bürokratische Effizienz, mit der der Massenmord organisiert wurde. Unter seiner Leitung avancierte Auschwitz zum Inbegriff des Holocaust. Der Ort stand für die Vernichtung und Verwertung von Menschen als industrielle Routine. In seinem Film verdeutlicht Glazer, dass das familiäre Glück der Höß‘ in einem deutlichen Kontrast zu den unvorstellbaren Verbrechen steht, welche hinter der Mauer ihres Gartens stattfanden. Die Gegenüberstellung eines scheinbar normalen Alltags mit dem systematischen Mord schafft eine beklemmende Atmosphäre, die den Zuschauer zur Reflexion über die menschliche Kapazität für Grausamkeit anregt.
Glazers filmische Annäherung: Die Banalität des Bösen im Familienidyll
Glazers Ansatz zur Darstellung des Massenmordes ist als einzigartig zu bezeichnen, da er die Gräueltaten nicht direkt zeigt, sondern durch akustische Elemente und subtile visuelle Hinweise andeutet. Anstatt sich auf explizite Gewaltdarstellungen zu konzentrieren, richtet er seinen Blick auf das scheinbar normale Familienleben der Höß-Familie, die in unmittelbarer Nähe zum Lager ein bürgerliches Idyll mit einem schön angelegten Garten pflegt. Der Kontrast zwischen der Alltäglichkeit des Familienlebens und dem Horror jenseits der Gartenmauer ist von einer tiefen Verstörung geprägt und wirft Fragen nach der menschlichen Fähigkeit zur Verdrängung und moralischen Abstumpfung auf. Die Entscheidung, am Originalschauplatz in Auschwitz zu drehen, verstärkt die Authentizität des Films, während die Abwesenheit von expliziten Bildern des Schreckens den Zuschauer dazu zwingt, sich mit der Realität des Holocaust auseinanderzusetzen. Die unkonventionelle Herangehensweise Glazers ermöglicht es dem Zuschauer, sich in die Gedankenwelt der Figuren hineinzuversetzen, während gleichzeitig eine distanzierte, beinahe dokumentarische Perspektive aufgebaut wird. Die Schauspieler Sandra Hüller und Christian Friedel, die die Rollen von Hedwig und Rudolf Höß verkörpern, waren sich während der Dreharbeiten der Verdrängung als zentralem Aspekt der Figurendarstellung bewusst. Die Darsteller waren gezwungen, die von ihnen dargestellten Figuren zu negieren, was eine Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung und der Darstellung dieser Figuren schuf. Glazer inszeniert „The Zone of Interest“ wie ein anthropologisches Stück und überlässt die Inszenierung vollständig dem Ort und den Schauspielern. Die Singularität des Settings – Holocaust auf der einen Seite der Mauer, Familienglück auf der anderen – erzeugt eine „Banalität des Bösen“, die die Aktualität seines Werkes in kinematografischer Wucht präsentiert.
Mahnende Gegenwartskritik: Der Holocaust als Spiegel moderner Verdrängungsmechanismen
„The Zone of Interest“ kann somit nicht nur als ein Film über die Vergangenheit betrachtet werden, sondern auch als eine dringende Mahnung für die Gegenwart. Der Film fordert die Zuschauer:innen dazu auf, die eigene moralische Positionierung in einer Welt zu reflektieren, in der Unrecht und Leid oft nur einen Klick oder eine Mauer entfernt sind. Glazer demonstriert, wie einfach es ist, sich in einer Blase des vermeintlichen Wohlstands und der Normalität einzurichten, während um uns herum Unvorstellbares geschieht. Der Film reflektiert sowohl eine Kritik an der Menschheit als auch an der Gesellschaft. Er konfrontiert mit der Möglichkeit, dass „normale“ Menschen unter extremen Umständen unvorstellbare Entscheidungen treffen und damit die Grundlage für Massenterror schaffen können. Diese Erkenntnis ist insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtige politische Lage von Bedeutung, in der es von entscheidender Bedeutung ist, den eigenen Handlungsspielraum zu reflektieren und Verantwortung zu übernehmen.
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