EGL064 Durch den dunklen Wald: Eine Reise in die Tiefen von Hänsel und Gretel
Diese Märchenfolge von Eigentlich Podcast möchten wir direkt am eigenen Leib erfahren und begeben uns in den tiefen finsteren Grunewald, während wir zu den künstlich generierten Stimmen mit amerikanischem Akzent lauschen, die uns das Märchen von "Hänsel und Gretel" vorlesen. Im Dunkeln und ganz ohne Taschenlampe analysieren wir das Märchen aus verschiedenen Blickwinkeln und arbeiten die "Glutkerne" des Märchens heraus, die von rituellem Kannibalismus, Hungersnöten und Kindesvertreibungen handeln. Wir loben die kooperativen Geschwister als Helden der Geschichte, finden Analogien zwischen der Hexe und der Mutter und fragen uns, warum die Hexe ihren Kalorienbedarf mit Menschenfleisch decken möchte, wenn doch das Lebkuchenhaus mehr als ausreichend die Energie liefern sollte. Flo stellt noch seine astronomische Deutung von Hänsel und Gretel vor: Hans versteht sich ganz in der Navigation nach den Sternen und weiß, wo er den Fixstern findet und sich dann an den Sternbilden orientieren kann (Kinder finden das erste Mal nach Hause zurück, weil sie zuvor den Weg mit weißen Steinchen markiert haben). Er macht aber schlechte Erfahrungen, wenn er sich an flüchtigen Himmelsereignissen orientieren möchte, wie Sternschnuppen (Beim zweiten Mal, als Hänsel und Gretel in den dunklen Wald geführt werden, markieren sie den Weg mit Brotkrumen, die die Vögel verspeisen). Wir bemühen uns um eine tiefenpsychologische Interpretation der sexuellen Aspekte des Märchens wie der Backofen als invertierter Mutterleib oder das "Fingerchen" von Hans, das nicht größer werden will. Am Ende und kurz vor der Avus kommen wir noch auf das Filmgenre "Coming-of-Age" zu sprechen, das, wie auch bei Hänsel und Gretel, Geschichten erzählt, die von dem Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein handeln.
Shownotes
- Links zur Laufstrecke
- EGL064 | Wanderung | Komoot
- Links zur Episode
- https://de.wikipedia.org/wiki/Hänsel_und_Gretel
- https://de.wikisource.org/wiki/Hänsel_und_Gretel_(1812)
- https://de.wikisource.org/wiki/H%C3%A4nsel_und_Grethel_(1857)
- https://de.wikisource.org/wiki/Kinder-_und_Haus-M%C3%A4rchen_Band_3_(1856)/Anmerkungen#15
- https://de.wikipedia.org/wiki/Grimms_M%C3%A4rchen
- https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Grimm
- https://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_Grimm
- https://de.wikisource.org/wiki/Rothk%C3%A4ppchen_(1812)
- https://de.wikisource.org/wiki/Sneewittchen_(Schneewei%C3%9Fchen)_(1812)
- https://platform.openai.com/docs/guides/text-to-speech/overview
- https://izi.br.de/deutsch/publikation/televizion/29_2016_1/Wilkes_Was_Maerchen_zur_psychischen_Gesundheit.pdf
- https://www.stern.de/familie/maerchen--was-steckt-hinter-dem-maerchen-haensel-und-gretel--8616894.html
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/verarbeitung-von-grauenhaften-menschheitserfahrungen-100.html
- https://www.srf.ch/audio/reflexe/was-maerchen-wirklich-erzaehlen?id=10250802
- https://www.youtube.com/watch?v=2JidaOO2Fds
- https://www.newgrounds.com/portal/view/515322
- https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhof_Grunewald-Forst
- https://de.wikipedia.org/wiki/Struwwelpeter
- https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Hoffmann
- https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Bechstein
- https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Astronomie
- https://de.wikipedia.org/wiki/Tycho_Brahe
- https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Kepler
- https://de.wikipedia.org/wiki/Zodiak
- https://de.wikipedia.org/wiki/Kannibalismus
- https://de.wikipedia.org/wiki/Inzest
- https://de.wikipedia.org/wiki/Batzen
- https://de.wikipedia.org/wiki/Gretel_%26_H%C3%A4nsel
- https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Moers
- https://de.wikipedia.org/wiki/Die_13%C2%BD_Leben_des_K%C3%A4pt%E2%80%99n_Blaub%C3%A4r
- https://www.ardmediathek.de/video/br-retro/die-wahrheit-ueber-haensel-und-gretel/br/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzg1OWQwNTg3LTZiZGYtNDQ5Ni05MmY4LTU3MzJlNmE2YTFiNg
- https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Traxler
- https://en.wikipedia.org/wiki/Coming_of_age
- https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_coming-of-age_stories
- https://de.wikipedia.org/wiki/Ferris_macht_blau
- https://de.wikipedia.org/wiki/The_Breakfast_Club
- https://de.wikipedia.org/wiki/My_Private_Idaho
- https://de.wikipedia.org/wiki/Kids_(Film)
- Gummo – Wikipedia
- Ghost World – Wikipedia
- Call Me by Your Name – Wikipedia
- Aftersun (2022) – Wikipedia
Transcript
Das Märchen „Hänsel und Gretel“ der Brüder Grimm gehört zu den bekanntesten und verbreitesten Erzählungen der europäischen Volksliteratur. Seine Ursprünge reichen weit in die Vergangenheit zurück und spiegeln uralte menschliche Erfahrungen und Ängste wider. Die Geschichte der beiden Geschwister, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden und sich gegen eine kannibalistische Hexe behaupten müssen, hat über Jahrhunderte hinweg Generationen von Zuhörern und Lesern in ihren Bann gezogen. Dabei ist es gerade die Vielschichtigkeit des Märchens, die es für Interpretationen so ergiebig macht und seine anhaltende Relevanz erklärt.
Ein zentrales Motiv des Märchens ist der Konflikt zwischen Hunger und Überfluss, der sich durch die Erzählung zieht. Die extreme Armut der Holzhackerfamilie zu Beginn steht in krassem Gegensatz zum verlockenden Überfluss des Lebkuchenhauses. Dieser Kontrast spiegelt historische Realitäten wider, insbesondere die Erfahrungen von Hungersnöten, die zur Entstehungszeit des Märchens keine Seltenheit waren. Die kannibalistische Hexe kann in diesem Kontext als Personifizierung der existenziellen Bedrohung durch den Hunger verstanden werden. Gleichzeitig lässt sich das Motiv des Kannibalismus als Ausdruck eines „Glutkerns“ interpretieren, wie ihn der Literaturwissenschaftler Michael Maar beschreibt – ein traumatisches Ereignis aus der Menschheitsgeschichte, das im Märchen verarbeitet und durch die fantastische Erzählung abgemildert wird.
Die Figur der Hexe ist besonders vielschichtig und lädt zu verschiedenen Deutungen ein. In psychoanalytischer Perspektive kann sie als Verkörperung der „bösen Mutter“ oder als Aspekt der ambivalenten Mutterfigur gesehen werden. Feministisch orientierte Interpretationen sehen in ihr ein verzerrtes Bild weiblicher Macht, das patriarchale Ängste widerspiegelt. Kulturhistorisch betrachtet, lässt sich die Hexenfigur mit der Geschichte der Hexenverfolgungen in Verbindung bringen, die zur Entstehungszeit des Märchens noch präsent war. Die Überwindung der Hexe durch die Kinder, insbesondere durch Gretel, die am Ende zur aktiven Retterin wird, kann als Emanzipationsgeschichte gelesen werden.
Die Entwicklung der Kinder im Verlauf der Geschichte macht „Hänsel und Gretel“ zu einem klassischen Beispiel für ein Coming-of-Age-Narrativ. Die Protagonisten durchlaufen einen Reifeprozess, in dem sie lernen, Gefahren einzuschätzen, kreative Lösungen zu finden und selbstständig zu handeln. Dieser Aspekt macht das Märchen auch für die heutige Zeit relevant, da es grundlegende Fragen der Identitätsfindung und des Erwachsenwerdens behandelt. Die gegenseitige Unterstützung der Geschwister unterstreicht dabei die Bedeutung von Solidarität und familiärem Zusammenhalt in Krisensituationen.
Aus einer mem-theoretischen Perspektive lässt sich der anhaltende Erfolg von „Hänsel und Gretel“ durch die Kombination einprägsamer Motive erklären. Das Lebkuchenhaus, die Brotkrümelspur oder der vorgestreckte Knochen sind bildhafte Elemente, die sich leicht merken und weitergeben lassen. Sie funktionieren als kulturelle Replikatoren, die zur Verbreitung und Langlebigkeit des Märchens beitragen. Gleichzeitig ermöglicht die Struktur des Märchens lokale Anpassungen und Variationen, was seine Verbreitung in verschiedenen kulturellen Kontexten begünstigt.
In der pädagogischen und therapeutischen Praxis bietet „Hänsel und Gretel“ vielfältige Anknüpfungspunkte. Die Geschichte kann als Ausgangspunkt dienen, um mit Kindern über den Umgang mit Fremden, die Bewältigung von Ängsten oder ethische Fragen zu sprechen. In der Psychotherapie, insbesondere im Psychodrama, werden Elemente des Märchens genutzt, um Zugang zu unbewussten Konflikten zu finden und Lösungsansätze zu entwickeln. Die archetypischen Figuren und Situationen des Märchens bieten einen Resonanzraum für individuelle Erfahrungen und können so zur Verarbeitung persönlicher Themen beitragen.
Hier noch so ein ergänzender Blick von einem bekanntem Geomanten
https://www.inana.info/blog/2015/12/18/haensel-und-gretel