EGL043 Dan Simmons Appetitmacher 1: »Song of Kali« & »Drood« – Review über Horror, psychologische Thriller und Historienroman
Heute wandern wir durch das düstere Charlottenburg, entlang der Küste des Lietzensees und auf den literarischen Spuren des US-amerikanischen Genre-Wandlers Dan Simmons. Zwei sonderliche Horror-Stories bilden den Kern unseres laufenden Redens: "Song of Kali" (1985) und "Drood" (2009). Simmons' erstes Buch "Song of Kali" folgt dem amerikanischen Schriftsteller Robert Luczak, der mit Frau und Kleinkind nach Indien reist, um das Manuskript eines mysteriösen Dichters zu finden. Was in der schnucklig-schmuddeligen Redaktion eines nordamerikanischen Literaturmagazins der 1970er noch wie ein inspirierendes Abenteuer klingt, verfärbt sich in Kolkata schlagartig ins düstere, abtraumhafte und transzendente eines totgeglaubten Kults, der mit Hilfe der Göttin Kali den totgewussten, legendären Dichter M. Das wieder unter die Lebenden zu bringen glaubte. Mit seinem subtilem, low-fi Horror-Debut kassierte Dan Simmons 1986 den World Fantasy Award ein. Dann tauchen wir in die schattenhafte Welt von "Drood" ein, der uns in die dunklen Tiefen des viktorianischen Londons entführt. Die Geschichte dreht sich um Charles Dickens und seine mysteriöse Begegnung mit der rätselhaften Figur namens Drood, dem er nach einem schrecklichen Eisenbahnunglück 1985 begegnet. Während Dickens sich in die unheimlichen Bereiche des Okkulten und einer Geschichte wie von Opium verursachten Halluzinationen vertieft, wird er in ein Netz übernatürlicher Schrecken verstrickt, die jede Erklärung trotzen. Erzähler der Geschichte ist Dickens' Kollege und Freund Wilkie Collins, dessen Bewunderung und Hass gegenüber Dickens ihn ebenso unglaubwürdig erscheinen lassen wie seine Abhängigkeit vom Opiat-Mix "Laudanum". Doch in diesem faktischen Fiction-Horror ist unwichtig, was wahr ist und was Illusion. Dies ist die erste Folge einer kleinen Serie über den vielseitigen US-amerikanischen Schriftsteller Dan Simmons, der 1948 in Peoria, Illinois geboren wurde und der zahlreiche Romane und Kurzgeschichten verfasste, die sich in und zwischen den Genres Science-Fiction, Horror und Fantasy bewegen.
Shownotes
- EGL043 | Wanderung | Komoot
- Harlan Ellison: Dreams With Sharp Teeth auf YouTube
- Dreams With Sharp Teeth Q&A, New Beverly
- The City on the Edge of Forever - Wikipedia
- The Mystery of Edwin Drood by Charles Dickens | Audiobook auf YouTube
- Zeit aus den Fugen (Philip K. Dick) Rezension von Micha Wischniewski
- Snow Crash (1992) von Neal Stephenson
- Ender's Game (1985) by Orson Scott Card
- Jeff Noon: a life in writing | Science fiction books
- Books by Jeff Noon and Complete Book Reviews
- Arthur C. Clark's 2010 and 2061 and 3001 ? Reddit
- Prayers to Broken Stones, short story collection by Dan Simmons
- Charles Dickens and the American Copyright Problem
Transcript
Die Geschichte von Dan Simmons kann nicht erzählt werden, ohne die Geschichte von Harlan Ellison, dem 2018 verstorbenen US-amerikanischen Schriftsteller, der zu Lebzeiten (*1934) über 1.700 Kurzgeschichten, Novellen, Drehbücher, Comicbuchskripte, Fernsehspiele, Essays und Kritiken zu Literatur, Film, Fernsehen und Print verfasst hat. Zu seinen heute noch bekannten Werken zählen die Star Trek-Episode „The City on the Edge of Forever“ von 1967, seine Kurzgeschichten „I Have No Mouth, and I Must Scream“ und „‚Repent, Harlequin!‘ Said the Ticktockman“. Letztere, so der Autor selbst, sei die meistveröffentlichte Kurzgeschichte aller Zeiten, wie er in der Dokumentation „Dreams With Sharp Teeth“ von 2008. Wegweisend war er als Herausgeber und Anthologist für „Dangerous Visions“ (1967) und „Again, Dangerous Visions“ (1972), die einen Generationswechsel und New Wave-Bewegung des Speculative Fiction Genres (wie Ellison Science Fiction umdeutete) festhielten. Die Beiträge zu dieser Sammlung umfassten Werke von 20 Autor:innen, die einen Hugo, Nebula, World Fantasy oder BSFA Award gewonnen hatten oder gewinnen würden, sowie 16 Autor:innen mit mehrfachen Auszeichnungen. Ellison schrieb Vorwort der Anthologie sowie individuelle Anmerkungen und die Autor:innen selbst Nachworte zu ihren Geschichten.
Später wird Harlan Ellison in einem Vorwort zu Dan Simmons Kurzgeschichtensammlung „Prayers to Broken Stones“ (1990) schreiben, dass er beginne zu akzeptieren, dass man ihn vergessen werde. Und der einzige Grund, weshalb er eventuell erinnert werde sei die Tatsache, dass er Dan Simmons bei einem Schreib-Workshop entdeckt habe.
„In the ocean of time it is merest chance that saves the handful from oblivion. It is my ever growing sense that of all the chances thrown to me, lifelines in the ocean of time, that my best chunk of flotsam is that I discovered Dan Simmons. Oh, yes, that’s the correct word. I discovered him.“
Extract from the introduction to „Prayers to Broken Stones“ by Harlan Ellison
Durch Ellisons Unterstützung wurde Simmons‘ Kurzgeschichte „The River Styx Runs Upstream“ im Twilight Zone Magazine veröffentlicht. Er wurde von Ellisons Agenten, Richard Curtis, unter Vertrag genommen und sein erster Roman, „Song of Kali„, wurde 1985 veröffentlicht.
„Who is this Simmons?“ bellowed Ellison. „Stand up, wave your hand, show yourself, goddamnit. What egomaniacal monstrosity has the fucking gall, the unmitigated hubris to inflict a story of five thousand fucking words on this workshop? Show yourself, Simmons!“
So habe Ellison reagiert, erinnert sich Simmons, als er diese Kurzgeschichte im August 1979 mit in den Workshop brachte.
Drood (2009): Historienroman und psychologischer Thriller
Auf YouTube konnten wir Charles Dickens‘ letzten Roman — „The Mystery of Edwin Drood“ — finden und haben diesen Roman in den Shownotes verlinkt. „Das Geheimnis des Edwin Drood“ sollte von April 1870 bis Februar 1871 in elf Teilen als Fortsetzungsserie, illustriert von Luke Fildes, erscheinen. Nur sechs der Teile wurden vor Dickens‘ Tod im Jahr 1870 abgeschlossen. Es war also ungefähr zur Hälfte fertiggestellt. Dieser Roman ist die ursprüngliche Inspiration für Dan Simmons‘ „Drood“ aus dem Jahr 2009, der eine von historischen Fakten durchtränkte, gleichzeitig halluzinierte, fiktive Geschichte von Charles Dickens‘ letzten Jahren erzählt, betrachtet aus der Sicht seines Freundes Wilkie Collins. Diese Erzählung verwebt reale Ereignisse aus Dickens‘ Leben mit der Geschichte von Drood.
Song of Kali (1985) ist low-fi Horror
Robert Luczak, amerikanischer Herausgeber fernöstlicher Dichtung, begibt sich in Kolkata auf die Spuren des vor Jahren verschwundenen und für tot erklärten Dichters M. Das. Von diesem ist angeblich ein neues Manuskript aufgetaucht, das Luczaks amerikanische Auftraggeber erwerben wollen. Angekommen in Kolkata trifft er auf einen mysteriösen Mann, der erzählt, wie er und ein Freund versuchten, einer religiösen Geheimgesellschaft beizutreten, der hinduistischen Tod-und-Zerstörung Göttin Kali gewidmet. Um teil der Sekte zu werden bringen alle Neuzugänge jeder eine Leiche zu einem geheimen Tempel, um sie dort zu den Füßen einer Statue von Kali niederzulegen. Eine der Leichen, aufgedunsen und verfallen, nachdem sie aus dem Fluss gezogen wurde, wird von Kali ausgewählt und von ihr wiederbelebt. Angeblich, so der mysteriöse Mann, handelt es sich dabei um die Leiche des Dichters Das. In der fremdartigen Metropole gestaltet sich die Suche nach dem Manuskript als Albtraum, in den letztlich auch Luczaks Familie hineingezogen wird.
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