EGL039 Lars von Trier ‚Idioten‘: Parabel auf Psychiatrie, Filmindustrie oder engagierte Bürger:innen?
Wir starten unsere Tour der Idioten am Kotti mit einem kleinen Verweis auf den Film "Herr Lehmann" (2003) und ziehen die Parallele, dass es hier genauso wie in Idioten darum geht, dass eine Welt zerbricht, wenn sie mit ihrer Umgebung in Berührung kommt. Aber bevor wir in die Tiefe gehen, werfen wir noch ein paar Ideen zu "Das Fest" (1998) ein, den wir am gleichen Tag und in der letzten Episode behandelt haben. Micz versucht, vier Parabeln auf "Idioten" (1998) anzuwenden. Zuerst die von "Jacob's Ladder" (1990): Karen landet dekompensiert in der Psychiatrie nach dem Tod ihres Kindes. Das Finale des Films zeigt sie wieder zuhause, medikamentös stabilisiert. Alles dazwischen ist eine verschwommene Erinnerung an ihre zwei Wochen in der Psychiatrie. Dann wagen wir uns an die Parabel "Das Kino in der Gesellschaft", gefolgt von "DOGMA 95 in der Filmindustrie", nur um schließlich 2000 Jahre zurückzublicken und aus der Trickkiste zu ziehen: "Idioten" leitet sich vom altgriechischen "idiotes" ab, was so viel wie "Privatperson" bedeutet. Es bezeichnete in der Polis Personen, die sich aus öffentlich-politischen Angelegenheiten heraushielten und keine Ämter übernahmen. Das hat unter anderem Tocqueville in "Der alte Staat und die Revolution" (1856) beschrieben. (Dogville == Tocqueville? Weiß Lars von Trier, was er tut?) Und hier stoßen wir auf genauso viele Fundstücke wie bei den anderen drei Parabeln: Das Private ist Politisch. Stoffer möchte den inneren Idioten in die Welt entlassen und damit die zurückgezogene Kommune mit der Gesellschaft verbinden, um Veränderungen herbeizuführen.
Shownotes
- Lauftrack zur Episode
- EGL039 | Wanderung | Komoot
- Links zur Episode
- SANDOR FERENCZI: SPRACHVERWIRRUNG ZWISCHEN DEN ERWACHSENEN UND DEM KIND, XII. Internationaler Psychologischer Kongress in Wiesbaden, 1932
- Dogma 95 - zehn Jahre danach
- Jacob's Ladder (1990) Drehbuch: Bruce Joel Rubin, Regie: Adrian Lyne
- The Village (2004) Drehbuch und Regie: M. Night Shyamalan
- Die Truman Show (1998) Drehbuch: Andrew Niccol, Regie: Peter Weir
- Wahnsinn und Gesellschaft
- Ronald David Laing, britischer Psychiater, Mitbegründer der antipsychiatrischen Bewegung
- Antipsychiatrie
- Dynamische Psychiatrie
- Das Wort 'Idiot' leitet sich aus dem Altgriechischen 'idiotes' ab, das in etwa „Privatperson“ bedeutet
- Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution (1856)
Transcript
In der Welt von „Das Fest“ weigert sich das Thema hartnäckig einer klaren Parabel zuzuordnen. Die Dramaturgie des Zwillingsthemas durchzieht den Film, wobei die Abspaltung als tote Schwester eine düstere Note einbringt. Dabei betont die Notwendigkeit, den Film nicht als Vehikel für den Missbrauch zu verwenden, um Missbrauch zu reflektieren. Ein immer noch wertvoller Blick auf das Thema ’sexueller Missbrauch‘ von Sándor Ferenczi, der bereits 1932 über Sprachverwirrung schrieb (Link siehe Shownotes).
Beachtlich ist, dass „Das Fest“ nicht nur der erste, sondern auch der einzige Film ist, der nach den Prinzipien von DOGMA95 entstanden ist. Dieses Jahr war für den Film auch von besonderer Bedeutung, da sowohl „Das Fest“ als auch „Idioten“ 1998 in Cannes vertreten waren. Lars von Trier selbst hatte zuvor mit „Breaking the Waves“ in Cannes für Furore gesorgt.
DOGMA 95 diskutieren wir detailliert in der EGL038, also gerne noch einmal in die vergangene Folge reinhören, während wir an die Kinos an der Skalitzer Straße vor dem Mauerbau denken.
Nicht zu übersehen sind die expliziten Sexszenen in „Idioten“. Flo erklärt, dass von Trier sogar Pornos für Frauen produzierte. Das gesamte Team, angefangen vom Schnitt bis zu den Darsteller:innen, wird beleuchtet. Interessanterweise gibt es zwei Versionen von „Jacob’s Ladder“.
Die kürzeste Zusammenfassung des Films „Das Fest“ offenbart, dass Karen in der Psychiatrie war und nun wieder zu Hause ist. Bei „Idioten“ wird die Handlung detailliert aufgedröselt – der Mut, den inneren Idioten in die Welt zu tragen, führt zum Zerfall der Gruppe und einem Showdown mit Karen.
Ein zeitgenössischer Blick hinterfragt, ob das Mimen von Idioten heute noch möglich ist. Der GPS-Track zeigt, dass wir scheinbar stillstehen, während der Film „Sweet Movie“ von Dusan Makavejev auf die Leinwand tritt. Lars von Trier bricht dreimal mit den DOGMA 95-Prinzipien und wir werfen einen Blick auf die Parabeln des Kinos in der Gesellschaft, DOGMA in der Filmindustrie und der Rolle der Bürger:innen in der Gesellschaft.
Adorno kommt ins Spiel – kein richtiges Leben im falschen, Filme mit zwei Welten, die sich berühren, werden in Erwägung gezogen. Von „Stranger Things“ über „Existenz“ bis zu „Matrix“ und „Die Truman Show“, sowie „The Village“ – alles Filme, die das Thema berühren.
Die letzte Parabel ist die, die uns am meisten Konzentration abverlangt: Idiot bedeutet hier, sich nicht politisch zu engagieren, und die Frage bleibt, ob von Triers Definition die altgriechische ist. Die Verbindung von „Dogville“ und Tocqueville wird thematisiert, ebenso wie Adorno und der Bruch zwischen Regierenden und Regierten. Die Idee, dass man als Idiot geboren wird und die Partizipation der Weg heraus ist, ist die Erklärung, die Tocqueville Mitte des 19ten Jahrhunderts in Worte fasst. Die Überlegung, dass Idioten diejenigen sind, die sich bewusst heraushalten wollen, führt zu einer tieferen Diskussion über Adornos ursprüngliche Idee – es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.
Der Druck, den Stoffer in der Kommune erlebt, wird beleuchtet. Die Frage, ob der Idiot privat ist und das Politische draußen, wird aufgeworfen. Eine faszinierende Reise durch die Psychiatriegeschichte und eine Zusammenfassung von Flo runden die Diskussion ab, während er bereits auf seine Idioten-Besprechung von 1998 vorausblickt. Und damit schließen wir – eigentlich.
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