EGL054 Solaris von Andrei Tarkowski – Eine Erlösungsgeschichte in ausserirdischer Kulisse
Wir setzen unsere Reihe Solaris direkt fort und wir setzen unsere vorherige Episode zu Solaris als bekannt voraus. In dieser Folge begeben wir uns in den Kunstfilm der Sowjetunion: Andrei Tarkowski verfilmte Solaris 1972 mit geringem Budget. Dennoch wurde der dritte Film des Regisseurs von der Kritik als Meisterwerk gefeiert. Tarkowski hat eine eigene Filmsprache entwickelt, die er auch in diesem Film weiter ausbaut. Wir sind uns nicht ganz einig, ob wir das Genre hypnotischer oder meditativer Film nennen möchten oder einfach bei Slowcinema bleiben. Die Wirkung von Tarkowskis Film ist körperlich spürbar, auch wenn der Film, wie es Flo zur Vorbereitung gemacht hat, in 1,5-facher Geschwindigkeit läuft. Der Akt des Zuschauens wird zu einem kartharsischen Akt, der Film nimmt uns mit auf eine innere und äußere Reise des Protagonisten Kris Kelvin. Tarkowski lässt die ersten 40 Minuten des Films auf der Erde spielen, auf dem Stück Heimat von Kris, wo wir seinen Vater, seine Tante und seine Kinder kennenlernen. Und auch ein Stück Solaristik, die wissenschaftliche Lehre, die sich um den rätselhaften Ozean auf Solaris gebildet hat, in Gestalt eines engen Freundes des Vaters, Berton, der die ersten unwirklichen Erfahrungen auf dem Planeten Solaris gemacht hat. Der Ozean erscheint in Tarkowskis Solaris als wolkenverhangenes Meer, das sich gelegentlich zu Strudeln aufbäumt. Der Film hält sich streckenweise recht eng an die Romanvorlage. Die Kernaussage geht aber in eine andere Richtung, die Lem missfiel. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Kris' Beziehung zu seiner ehemaligen Geliebten Harvey. Harvey taucht als Gast von Kris auf der Raumstation Solaris auf, und es entwickelt sich eine neue Liebe, die nicht ganz der Vorlage von Stanislaw Lem entspricht. Harvey ist sich ihrer unnatürlichen Herkunft bewusst und entwickelt eine eigene Identität. Tarkowski wirft in seiner Verfilmung die Frage auf, inwieweit das Menschliche in einer unmenschlichen Umwelt Bestand haben kann. Dieses Spannungsverhältnis überträgt er auf sein Figurenensemble und schafft so eine Erlösungsgeschichte mit anthropozentrischer Perspektive in einem außerirdischen Raum. Stansilav Lem kritisierte die Reduktion des Stoffes auf ein "Familienmelodram". Tarkowski konzentrierte sich eher auf Schuld, Verantwortung und Metaphysik statt auf Lems erkenntnistheoretische Fragen. Die Liebe wird als identitätsstiftende Kraft inszeniert. Dies kulminiert in einer Szene in der Bibliothek, als die einsetzende Schwerelosigkeit das ineinander verschlungene Paar Harvey und Kris ikonenhaft in die Höhe schweben lässt, umrahmt von kulturellen Interior und Relikten wie Bildern und Büchern. Auch wir fühlen uns auf unserer Wanderung wie in einem Zwischenraum, denn die Hauptstraße, die uns nach Marzahn führt, ist für den Verkehr komplett gesperrt. Auch auf der Straße treffen wir mitten in der Woche keine Menschen. Mit Blick auf die Skyline von Marzahn und die menschenleeren Straßen fühlen wir uns wie in einem dystopischen Filmszenario, das perfekt zur Stimmung von Solaris passt.
Shownotes
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- EGL054 | Wanderung | Komoot
- Links zur Episode
- Andrei Arsenjewitsch Tarkowski – Wikipedia
- Solaris (1972) – Wikipedia
- Iwans Kindheit – Wikipedia
- Andrej Rubljow (Film) – Wikipedia
- Stalker (Film) – Wikipedia
- Flußfahrt mit Huhn – Wikipedia
- Slow cinema - Wikipedia
- Hypnose – Wikipedia
- Europa (1991) – Wikipedia
- Lars von Trier – Wikipedia
- Ulrike Ottinger – Wikipedia
- Jacques Lacan – Wikipedia
- Schimmel (Pferd) – Wikipedia
- 2001: Odyssee im Weltraum – Wikipedia
- Stanley Kubrick – Wikipedia
- 28 Days Later – Wikipedia
- Die Jäger im Schnee – Wikipedia
- Solaris - Rezension von Ulrich Behrens
- Solaris - Rezension von Klaus Kreimeier
Transcript
Andrei Tarkowski (1932-1986) gilt als einer der einflussreichsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts. Sein Werk zeichnet sich durch eine einzigartige, poetisch-philosophische Ästhetik aus, die das Medium Film auf eine metaphysische Ebene hebt. Tarkowski stammte aus einer Künstlerfamilie – sein Vater war der renommierte Dichter Arsenij Tarkowski. Nach dem Studium am Moskauer Staatlichen Institut für Kinematographie drehte er 1962 seinen ersten Spielfilm „Iwans Kindheit“, der auf den Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Sein Schaffen ist geprägt von existenziellen Fragen über Sinn, Identität und die Conditio humana. Dabei bedient er sich einer langsamen, meditativen Erzählweise. Lange, statische Einstellungen und eine reduzierte, metaphernreiche Bildsprache verleihen seinen Werken eine transzendente, geradezu spirituelle Qualität. Filme wie „Andrej Rubljow“, „Der Spiegel“ oder „Stalker“ zählen zu den Meisterwerken des metaphysischen Kinos.
In Tarkowskis Adaption des Romans von Stanisław Lem reist der Psychologe Kris Kelvin zur Raumstation, die den Planeten Solaris erforscht. Hier trifft er auf eine Crew, die von unheimlichen Erscheinungen heimgesucht wird – Inkarnationen aus ihrer Vergangenheit und Erinnerungen. Als auch Kris‘ verstorbene Frau Hari auftaucht, wird er in eine existenzielle Krise gestürzt und muss sich seiner Schuld und Reue stellen. Während Tarkowski sich größtenteils nahe an Lems Handlung hält, weicht sein Film in entscheidenden Punkten davon ab. Zum einen verleiht er Kelvin eine familiäre Vorgeschichte, die im Roman keine Rolle spielt. Zum anderen reduziert er Lems detailreiche Erkundung der wissenschaftlichen Grundlagen und fokussiert sich auf die psychologischen und metaphysischen Dimensionen. Das offene Romanende, in dem Kelvin auf der Solaris-Station verbleiben möchte, wird von Tarkowski durch eine kosmische Vision der Harmonie ersetzt.
Kelvin sieht sich mit seiner Schuld konfrontiert und wird durch die Begegnung mit dem Anderen, in Form seiner verstorbenen Frau, einer Läuterung unterzogen. Diese Fokussierung auf die menschliche Liebe als Instrument eines Heilsplans steht im Kontrast zu Lems erkenntnistheoretischen Fragen. Die desolate Raumstation, in der ein Großteil der Handlung spielt, symbolisiert den Zustand moralischen und geistigen Zerfalls der Zivilisation. Andererseits finden sich Räume wie eine prächtig ausgestattete Bibliothek – Ausdruck von Tarkowskis Kunstidolatrie und des Versuchs, Kultur und Humanität inmitten der technischen Ödnis zu bewahren.
„Solaris” kann auch als selbstreflexives Werk über die Rolle des Künstlers betrachtet werden. Ähnlich wie in „Stalker” vermittelt der Künstler zwischen den Sphären, lässt das Unbewusste und Transzendente in die materielle Welt eindringen. Tarkowski projiziert in „Solaris” eine anthropozentrische „Erlösungsgeschichte” in den Weltraum.
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