EGL006 Stalker: Die Ästhetisierung einer verbotenen ZONE
Der russische Regisseur Andrej Tarkowski erschuf mit "Stalker" 1979 die cineastische Blaupause einer postapokalyptischen Zone, unwissend, dass ihn 7 Jahre später mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl die Realität einholen sollte. Im Film ist "Stalker" jemand, der sich anschleicht, über verschlungene Pfade pirscht und in der erzählten Geschichte unter Lebensgefahr Interessierte in die streng bewachte Zone bringt und dort führt. Wie auch in der Romanvorlage "Picknick am Wegesrand" der Gebrüder Strugazki, ist die Zone nicht ganz von dieser Welt. Naturgesetze sind nicht zuverlässig sondern aufgeweicht, wenn nicht sogar aufgehoben, was mit Gegenständen zu tun habe, die eine außerirdische Intelligenz hier zurückgelassen habe. Die Pilgergruppe, die Stalker führt, besteht aus einem Wissenschaftler und einem Künstler, die mit ihm auf überwachsenen Wegen in der ZONE den Raum der Wünsche erreichen möchten. Wie in Geoffrey Chaucers "Canterbury Tales" aus dem 14. Jahrhundert ist die Pigerfahrt die Passage der Erzählung. Die Gruppe reflektiert menschlichen Glauben, Wissenschaft und Kunst, diskutiert polarisierend und existentiell vor dem Hintergrund der postapokalyptischen Landschaft. Auch wir (Flo und Micz) sind wie immer unterwegs, pilgern durch Berlin und "gehen" (buchstäblich) der Frage nach, warum von solchen Sperrzonen eine solche Faszination ausgeht und wie das ästhetisch verarbeitet wird. Wir sprechen über die Ästhetisierung der Todeszone von Tschernobyl und in dem ukrainischen Computerspiel S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl hin zur Ostzone von Berlin nach dem Mauerfall. Dabei laufen wir auch nicht immer den kürzesten Weg durch die Parks und Straßen von Moabit und landen schließlich am Kanal. Auch bei uns sind die Naturgesetze aufgeweicht, so ist z.B. Flo stellenweise das Mikro im ersten Drittel ausgefallen, so dass die Soundqualität sehr leidet. Bitte entschuldigt das!
Shownotes
- Laufroute
- https://www.komoot.de/tour/735778439?share_token=a8VfcA9lTFaqqURLVhv6jJNe1kDJDIR656eTLH4RG1AnEABW8d&ref=wtd
- https://www.sportparkpoststadion.de/anlagen
- https://www.tennisclub-tiergarten.de/
- Links zur Episode
- https://de.wikipedia.org/wiki/Andrei_Arsenjewitsch_Tarkowski
- https://de.wikipedia.org/wiki/Stalker_(Film)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Tschernobyl
- https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fukushima
- https://de.wikipedia.org/wiki/Sperrzone_von_Tschernobyl
- https://de.wikipedia.org/wiki/Arkadi_und_Boris_Strugazki
- https://de.wikipedia.org/wiki/Picknick_am_Wegesrand
- https://de.wikipedia.org/wiki/John_Wick
- https://filmsucht.org/stalker/
- https://www.youtube.com/watch?v=oS-gmivPo6g
- https://de.wikipedia.org/wiki/Feldzeugmeister
- https://de.wikipedia.org/wiki/Kino_Babylon
- https://de.wikipedia.org/wiki/S.T.A.L.K.E.R.:_Shadow_of_Chernobyl
- https://www.youtube.com/watch?v=AWEg1bYwohs
- https://de.wikipedia.org/wiki/Midsommar_(2019)
- https://web.archive.org/web/20210301202207/http://www.filmzentrale.com:80/rezis/stalkerkk.htm
- https://de.wikipedia.org/wiki/Contact_(1997)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Stadt_aus_Glas
- https://de.wikipedia.org/wiki/Solaris_(Roman)
- https://de.wikipedia.org/wiki/Myst
- https://de.wikipedia.org/wiki/Stephankiez
- https://de.wikipedia.org/wiki/Entropie
- https://de.wikipedia.org/wiki/Deportationsmahnmal_Putlitzbr%C3%BCcke
- https://de.wikipedia.org/wiki/Akira_(Manga)
- https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/friedrichshain-kreuzberg/reise-zum-mittelpunkt-berlins-am-ruhepol/9837502.html
- https://www.amazon.com/last-people-Chernobyl-Krystian-Machnik/dp/B0829F2NH4#
- https://weddingweiser.de/nah-am-wasser-gebaut-der-treidelpfad/
- https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/tschernobyl-sperrgebiet-wie-die-letzten-menschen-auf-der-erde-a-1186440.html#fotostrecke-351a53de-0001-0002-0000-000000156534
- https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Frankl
Transcript
Es gibt nur wenige durch Menschen ausgelöste Ereignisse, die ein Gebiet hinterlassen können, das nicht mehr zugänglich ist. Ein Super-GAU ist ein solches Ereignis. Bisher ist die Havarie von Tschernobyl wohl der bekannteste und nachhaltigste Katastrophenfall dieser Art in der Geschichte. Zurück bleibt ein atomar verseuchtes Gebiet, das nicht mehr vom Menschen bewohnbar ist. Trotzdem kehren die Menschen dorthin zurück und wollen in ihrer Heimat weiterleben, in dem Gebiet rund um Tschernobyl werden sie Samosely genannt. Auch in der Gegend um Fukushima gibt es ähnliche Rückkehrer.
Radioaktive Strahlung kann man nicht mit den Sinnesorganen erfassen, sie wirkt in hoher Dosis in kurzer Zeit tödlich, in anderen Dosen kann sie schlimme Krankheiten auslösen (Strahlenkrankheit). Die Strahlenbelastung in einem atomar verseuchten Gebiet kann sehr unterschiedlich verteilt sein. Es gibt Karten von Tschernobyl auf denen metergenau die Strahlenbelastung verzeichnet ist. Die Wege zwischen den einzelnen Punkten sind dann auch nicht mehr die kürzesten, sondern können sich um viele Ecken winden, eben dort, wo die Belastung am geringsten ist. Ähnlich zu den Wegen in der ZONE, die der Stalker mit dem Werfen der Schrauben findet.
In der ZONE existieren noch Hinterlassenschaften der Menschen, die aber durch die langen Jahre des Stillstands erodiert sind: Fabrikhallen haben sich zu Wüsten verwandelt, Fische schwimmen über einem mit Fließen ausgelegtem Boden, der Raum ist zu einem Teich geworden. In diesen Szenen finden sich Artefakte einer verfallenden Zivilisation: eine Kalaschnikow, eine Spritze, ein Reliquienbild liegen verstreut auf dem Boden eines überfluteten Raumes, die Kamera fährt langsam über diese Gegenstände und fängt die Gesichter der Darsteller ein, die im Wasser liegend nach Erkenntnis, nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit suchen.
„Die verrottenden, verrostenden und verfallenden Relikte der industriellen Produktion sind Zeugnis dieses Prozesses, die inzwischen von der Natur überlagert, ja überwuchert werden.“
Quelle: Filmzentrale, Ulrich Behrens
Die ZONE ist ein Ort einer tiefgreifenden Magie, sie verspricht trotz der tödlichen Gefahren Wünsche erfüllen zu können. Jeder, der sie bereist hat kommt nicht mehr als derselbe zurück. Tarkowski gelingt mit Stalker ein dichtes atmosphärisches Meisterwerk, das mit einfachen filmischen Mitteln eine magische Erzählung inszeniert.
In Tschernobyl ist die Sperrzone Ausdruck der Entropie einer Havarie, die unumkehrbar und völlig zufällig verlaufen ist. Diese Willkürlichkeit steht im Gegensatz zu dem Film Stalker, bringt aber mit der ZONE ein ähnlich ästhetisches Phänomen mit sich, was immer wieder in der jüngeren Film- und Pop-Kultur rezipiert wird. Bevor Tschernobyl zum Kriegsgebiet durch den russischen Einfall in die Ukraine geworden ist, konnte man touristische Erlebnistouren durch Sperrzone buchen. Die Monstrosität des historischen Schauplatzes wird zu einem buchbaren Event, die verlassene Gebiete werden zur Erlebniskultur.
Dem können wir uns auch nicht entziehen, denn so erlebten wir in den 90er Jahren die ZONE in Berlin, die sich nach dem Mauerfall auftat. Viele brachgelegene Orte wurden damals mit der Partykultur wieder belebt, eine neue Mitte entstand, wo man sie sich einige Jahre zuvor nicht vorstellen konnte. Diese neue Mitte ist jetzt nach bald über 30 Jahre später nahezu vollständig erschlossen, das sehen wir auch am Ende unserer Episode. Wir sitzen zum Ausklang im Uferpark am Nordhafen und betrachten in der Ferne das städtische Entwicklungsgebiet Europacity, das nicht nur von Weitem wie eine CAD Zeichnung aussieht…
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